
Führen – Ist die Zeit des Konsens-Kuschelns vorbei?
Verantwortung übernehmen, zur eigenen Entscheidung stehen und eine positive Fehlerkultur etablieren – das könnte der Weg sein, um eine zunehmend defensive Führungskultur zu überwinden. Diese Erkenntnis stand im Mittelpunkt der diesjährigen Oldenburger Schlüsselgespräche, die unter dem Titel „Führen – Ist die Zeit des Konsens-Kuschelns vorbei?“ vom Bundestechnologiezentrum für Elektro- und Informationstechnik (BFE) ausgerichtet wurden.
Bloß nicht auffallen, bloß nichts falsch machen
Hauptredner Prof. Gerd Gigerenzer, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und einer der einflussreichsten Denker weltweit, kritisierte per Online-Vortrag den Wandel von einer Leistungs- zu einer Begründungskultur. „Wir leben in einer Welt, in der wir immer mehr defensiv entscheiden“, sagte er.
Entscheidungen würden oft intuitiv getroffen, und daran sei nichts falsch. Doch anstatt diese Entscheidungen geradlinig umzusetzen, würden Führungskräfte häufig aus Angst vor Verantwortung Umwege einschlagen. Typisch sei eine nachträgliche Suche nach belegbaren Gründen, was Zeit und Geld koste – insbesondere, wenn Beratungsunternehmen beauftragt würden, die aufwendige Präsentationen erarbeiteten.
Noch problematischer sei die defensive Strategie, bei der ein Manager die favorisierte Entscheidung A nicht trifft, um einer vermeintlich konsensfähigeren Option B den Vorrang zu geben. Eigene Absicherung trete vor das beste Ergebnis. Das könne gefährlich werden: In einer anonymen Umfrage unter über 800 Krankenhausärzten in den USA hätten rund 95 Prozent zugegeben, defensiv zu entscheiden – aus Patientensicht ein dramatisches Ergebnis.

Foto: T. Ritzmann
Familienunternehmen als Vorbild
Insbesondere Behörden und große Konzerne nahm Gigerenzer, der auch das Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam leitet und Vizepräsident des European Research Council (ERC) ist, ins Visier seiner Kritik. Familienunternehmen würden viel seltener defensiv entscheiden. Als möglichen Grund nannte der mehrfach ausgezeichnete Denker einen höheren Grad an Identifikation. „Das Handwerk ist der gesündere Teil der Unternehmen in Deutschland. Große Unternehmen sollten sich Familienunternehmen zum Vorbild nehmen“, so Gigerenzer.
Er warnte zudem vor einem neuen Tech-Paternalismus. In einem sicheren, berechenbaren Umfeld wie einem Schachspiel funktioniere Künstliche Intelligenz (KI) gut. „In instabilen Welten sind von KI getroffene Entscheidungen überhaupt nicht besser als die menschliche Intuition“, betonte er. Intuition sei keine Willkür, sondern eine starke, unbewusste Intelligenz – ein gefühltes Wissen, das sich aus Erfahrung speise. Nicht umsonst habe Albert Einstein sie als „Geschenk“ bezeichnet. Sie zu verpönen, sei unklug.
Führen ist lernbar
Im zweiten Teil der Veranstaltung brachte der ehemalige CeWe-Personalvorstand und Unternehmerberater Michael Wefers Praxisnähe in die Debatte. „Methodenkompetenz ist lernbar“, sagte Wefers und diskutierte mit den Gästen Tipps und Anregungen zu klaren Strukturen, Team-Motivation und Selbsterkenntnis. „Es gibt viele Führungsstile, und keiner ist besser als der andere. Aber: Man sollte seinen eigenen Führungsstil kennen“, so Wefers. Die Persönlichkeit sei ab einem Alter von 20 Jahren nicht mehr veränderbar, das Verhalten hingegen schon. Einige Charaktereigenschaften – wie etwa Konfliktscheu – seien nicht per se schlecht, für Entscheider jedoch ungünstig.
In der anschließenden Podiumsdiskussion mit Wefers, NWZ-Chefredakteur Ulrich Schönborn, Jungunternehmer Svend Böttjer, Familienunternehmer Henk Voigt und dem Publikum wurde lebhaft über Führungskultur debattiert. Schönborn betonte: „Ja, wir haben ein Problem mit Verantwortung“, und sprach sich für eine Innovationskultur aus. Voigt ergänzte: „Führungsqualität heißt, auch mal Nein zu sagen und Mitarbeitende zum Denken anzuregen.“
Insbesondere für Neueinsteiger wäre es hilfreich, Führung stärker in der Ausbildung zu vermitteln, merkte Böttjer an. „Wir bilden Meister aus, aber keine Unternehmer. Dies ist in der Prüfungsordnung nicht vorgesehen. Aber in dieses Vakuum müssen wir rein“, stimmte ihm Thorsten Janßen, Direktor von Deutschlands größter und ältester Meisterschule, zu.

Thema verstärkt in die Rahmenlehrpläne aufzunehmen. Im Hintergrund stehen v.l.n.r.
Jungunternehmer Svend Böttjer, Familienunternehmer Henk Voigt, Moderator Jan-Bastian Buck
und NWZ-Chefredakteur Ulrich Schönborn
Foto: T. Ritzmann
Bürokratie zerstört Zeitmanagement
Das Publikum, bestehend aus Fördermitgliedern des BFE, Vertretern der Handwerksinnungen und geladenen Gästen, beteiligte sich rege. Ein Unternehmer aus dem Publikum warf ein, dass Wertschätzung und Lob im Handwerk zentral seien, um Mitarbeitende zu motivieren. Auch der bis ins Groteske bürokratisierte Arbeitsalltag wurde thematisiert, und hier herrschte Konsens: Oft fehle schlicht die Zeit für eine tiefere Beschäftigung mit Führungsthemen. Die Politik müsse Bürokratie endlich reduzieren.
Zum Abschluss fasste Dieter Meyer, Vorstandsvorsitzender des BFE, die Erkenntnisse zusammen: „Führung ist die Kunst, jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, weil er es will. Ein Macher sieht Ziele, wo andere Probleme sehen.“ Zeitlose Führung bedeute Selbstführung, klare Visionen und die Fähigkeit, Menschen mitzunehmen – ohne Angst vor Fehlern.